Awumey, Edem

Die schmutzigen Füße

Roman
160 S. Seiten,Kartoniert
9783949441011
20,00 €
Inkl. 7% Steuern , exkl. Versandkosten
Lieferzeit: 5 Werktage (inkl. Versand)

Alle waren sie gescheitert auf diesem Platz inmitten der Stadt, wie das Wrack eines alten Kahns im Hafen seiner Kindheit. Gesichter, die Askia hier vor dem Centre Pompidou kennengelernt hatte. Unbeugsame. Unsterbliche Fressen. So charakterisierte er sie. Abenteurer, Läufer ohne Ziel, Inkarnationen des Scheiterns. Auf dieser Pariser Agora hingen einige solche Fressen rum: Lin, der Porträtmaler, der 1989 aus Peking geflohen war; die Visage von Kérim, dem Rumtreiber, von dem keiner wußte, woher er stammte und wie weit seine Fu¨.e ihn getragen hatten; Big Joe von Marie-Galante, städtischer Angestellter in seiner gru¨nen Straßenkehreruniform; Camille, die Nutte in ihrem hinten und an den Seiten vielfach geschlitzten Rock, Camille, die sich mit dem Fleisch der Lutetier den Bauch vollschlug, diese Venus der Straße ihrer Begierden, die ihr Geschlecht der Stadt der tausend Lichter darbot. Er hatte die Zeit, sie alle kennenzulernen, denn er streifte oft auf diesem Pflaster herum, wo Figuren und Schatten auf der Suche nach einem Zuhause sich langweilten, Menschen unterwegs von allen Polen unserer alten Erde: Pilger, Flu¨chtlinge, Neugierige, Unzufriedene, all die Seelen, die geschaffen waren, sich in Richtung Unendlichkeit im Kreis zu drehen. Aus diesem Grund kam er auf diesen Platz, in der Hoffnung, Sidi in der Unendlichkeit seiner Flucht dort u¨ber den Weg zu laufen, mit oder ohne Turban, der sich gewiß schon abgenutzt hatte in all den Stu¨rmen, denen er begegnet war. Es gab viele andere hier, deren Namen Askia nicht kannte: Ansichtskartenverkäufer, Polizisten, Gymnasiasten, vereinsamte Großmu¨tter, deren Männer auf dem Père Lachaise lagen. Da stand auch dieses bunte Museum mit dem ganzen Metall, der Platz davor ein Wegkreuz der Zeit des Exodus, voller Hausierer, Flohmarkthändler, bekannten und fremden Visagen und Puppengesichtern, Mädchen, die um 19 Uhr aus den Tu¨ren des Museums und der Bibliothek kamen, junge Frauen mit Stapeln von dicken Bu¨chern auf dem Arm. Und Punkt 19 Uhr fielen die Bu¨cher aufs Pflaster, als sie u¨ber die Schwelle der Bibliothek traten, und sie bu¨ckten sich, um sie aufzusammeln. Sie bu¨ckten sich wie fu¨r die Liebe, die Knie auseinander, und Askia erhaschte einen Blick auf ihre Taillen und mageren Hu¨ften. Eines Tages kam ein Mädchen mit einem großen Folianten, der ihr aus den Händen glitt und zu Boden fiel. Als Askia herbeistu¨rzte, um ihr beim Aufheben behilflich zu sein, da sah er ihn. Sidi. Sidi, ernst und mit festem Blick auf dem Einband des Buches, mit einer Kopfbedeckung aus rotem Tuch, das sich in mehreren Schichten u¨ber seiner großen Stirn aufbaute. Der Rest des Gesichtes von großer Klarheit, wie in Holz geschnitten, gerade Nase, hohe Schläfen und ein weiches bärtiges Kinn. In Holz geschnitten, weil nichts dieses fokussierte Gesicht nahbarer machen konnte. Ohne nachzudenken, fragte er das Mädchen, wo sie das Buch herhatte, auf dessen Einband jemand abgebildet war, den er fu¨r seinen Vater hielt. Verständnislos sah sie ihn an. Ein paar Sekunden später aber sagte sie: 'Sie meinen die Abbildung auf dem Einband? Das ist ein Porträt von Askia Mohammed, dem König des Songhaireichs von 1492 bis 1528. Er erinnert Sie vielleicht an jemanden, den Sie kennen? Tut mir leid. Das ist definitiv nicht der, den Sie meinen. Aber vielleicht sind Sie selbst aus Songhai? Sie haben etwas mit diesem Bild gemeinsam. Das ist spannend, Geschichte, wissen Sie? Sie ist ein Teil von uns.' Askia kam sich dumm vor, regungslos stand er vor dem Mädchen, das schließlich im Inneren des Museums verschwand, ihr schmaler Schatten glitt ihr voran.

Askia fährt Taxi in Paris, vornehmlich nachts. Er ist illegal, sein Taxischein gefälscht, sein Zimmer mit dem ewig tropfenden Wasserhahn schwer zu ertragen. Eines Abends steigt eine Frau in seinen Wagen. Sie mustert sein Gesicht im Ru¨ckspiegel und sagt: 'Sie erinnern mich an jemand. Einen Mann mit Turban, der mir vor ein paar Jahren Modell gestanden hat.' Die Frau heißt Olia, stammt aus Sofia und ist Fotografin. Und der Mann mit dem Turban muß Askias Vater sein, den er auf dem langen Weg aus Mali verloren hat. Kurz vor ihrem Tod hat seine Mutter ihm noch erzählt, der Vater sei nach Paris gegangen. Askia sucht ihn. Nun hat er eine erste Spur. Immer wieder begegnet er Hinweisen auf einen geheimnisvollen Mann mit blu¨tenweißem Turban. Ist das der verlorene Vater? Die Familie mußte aus Mali flu¨chten, weil kein Regen mehr fiel, die Felder verdorrten und das Vieh verdurstete. Unterwegs wurden sie verspottet als 'die schmutzigen Fu¨ße'. Mutter und Sohn blieben an der Ku¨ste Togos, der Vater zog weiter. Askia folgt ihm Jahre später, ständig begleitet von der schmerzhaften Erinnerung an den Hund Pontos auf der Mu¨llhalde von Trois-Collines. Dieser mythische Roman u¨ber die Suche nach einem Vater klingt lange nach, weil die Zeitebenen und die Orte sich durchdringen und vermischen. Und weil durch Edem Awumeys Sprachkunst ein Gebilde entsteht, das zwar nur in Worten existiert, mitunter aber wirklicher erscheint als die sogenannte Wirklichkeit.

Edem Awumey wurde 1975 in Lomé, Togo, geboren. 'Les pieds sales', so der Originaltitel, erschien zuerst 2009 und kam sofort auf die Shortlist fu¨r den Prix Goncourt. Edem Awumey lebt in Vieux-Hull bei Ottawa. 2020 erschien sein Roman 'Nächtliche Erklärungen' im Weidle Verlag. Er wird am 12. und 14. September beim internationalen literaturfestival berlin beide Bu¨cher vorstellen.

Mehr Informationen
Autor Awumey, Edem
Verlag Weidle Verlag
ISBN 9783949441011
ISBN/EAN 9783949441011
Lieferzeit 5 Werktage (inkl. Versand)
Erfassungsdatum 18.05.2021
Lieferbarkeitsdatum 15.08.2021
Einband Kartoniert
Format 1 x 20.5 x 13
Seitenzahl 160 S.
Gewicht 206