Wilhelmy, Audreé

Weißes Harz

Roman
296 S. Seiten,Gebunden
9783737412285
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Zwischen den Zweigen erkenne ich zuerst den blassen Schein eines Hemdes und einer hellbraunen Leinenhose. Der Duft ist nicht der von Baumwolle, aber er haftet daran. Die Helligkeit der Kleidung verwirrt mich, ich muss die Augen zusammenkneifen, um hinter den Stoff zu blicken. Das Weiße hat das Gesicht eines jungen Mannes - fünfzehn, siebzehn Jahre alt - mit dichtem, schneeigem Haar, gelben Augen und den milchig rauen Wangen eines Rehbocks irgendwo zwischen Jugend und Vatertier. Der Junge hat die Haut eines Flussgeistes, der unablässig ins Wasser taucht, glattgewaschen im Spiel der Kiesel. Ich beobachte ihn, er weicht nicht vom Weg ab. An der Stelle, wo mein Herz schlägt, spüre ich seine Nervosität. Aus einem Feldmäppchen hat er eine gusseiserne Schere mit langen Klingen und einen braunen Papierumschlag hervorgeholt und beugt sich über die Zeichnung eines Mutterkrauts. Um sich zu beruhigen, pfeift er. Er kneift den Kopf eines Zweiges zwischen seine Finger und öffnet seine Schere am Stängel. Ich schreie: 'Nein!' Ich springe vor ihm auf. 'Was machst du da!' Ich habe meine Fäuste in die Seiten gestemmt, knotige Ellenbogen, geschmeidige Oberarme. Er hat sich drei Schritte von mir entfernt, hält seine Schere vor sich und mustert mich, ich habe graue Hosen an, den Bauch frei, die Unterlippe bebend. Aus meinem Schritt ragen Knospen, Birkenkätzchen. Er runzelt die Augenbrauen, hält Abstand. Ich gehöre zu einer Art, die er nicht kennt. Er schaut sich um, als ob noch andere wie ich ihn angreifen könnten. Außer mir ist hier niemand von meiner Rasse. 'Was du machst, habe ich gefragt.' 'Guten Tag. Bist du das kleine Mädchen, das von den Nonnen adoptiert wurde?' Seine Stimme versucht, sanft zu klingen, er füllt seine Überraschung mit Worten. 'Wie heißt du?' 'Du bist hier in meinem Wald. Also sagst du mir deinen Namen.' Ich möchte wissen, was er da ausatmet und was mir die Nasenlöcher füllt, ich schaffe es nicht, mich auf seine Worte zu konzentrieren, mein Gehirn durchforstet die Bibliothek der Gerüche, ohne etwas Vergleichbares zu dem zu finden, was seinen Menschengeruch überdeckt. 'Laure Hekiel. Ich bin der Lehrling von Doktor Do. Er hat mir von dir erzählt.' Ich erkenne die Farbe seiner Behaarung, es ist die eines Hermelins, und seine Haut ist genauso wie die der weißesten Schneeeulen. Ich behalte mir seinen Namen nicht, sondern nenne ihn sofort Ookpik. Alles an ihm ist keimfrei, sauber sind Wäsche, Haut, Nägel, selbst der Blick. Ich sage noch einmal: 'Was machst du', und da wird er sich der Schere bewusst, die er vor sich hochhält, lässt die Deckung sinken und fährt sich mit den Fingern durch seinen schneebedeckten Schopf. 'Ich wollte mich von den Nonnen verabschieden. Morgen verlasse ich Brón. Ich gehe in die Stadt. Wenn ich wiederkomme, bin ich Amtsarzt. Professor Rondeau vom Institut für Wildpflanzen hat mich gebeten, noch Einiges zu sammeln, bevor ich abreise. Dieses ist ein Sämling des Rhododendron groenlandicum.' 'Gegen Geburtsschmerzen.' 'Wie alt bist du?' Ich öffne meine Faust vor seinem Gesicht, zeige ihm ihre fünf Äste, wedele damit unter seiner Nase herum. Seine strohfarbenen Augen weiten sich, dann lacht er, und sein Lachen ist so rein wie seine Haut, wie sein Haar, wie seine Wäsche: Es prallt von meinen Felsen ab, schlängelt sich zwischen meinen Bäumen hindurch. Ookpik wird still, aber der Klang setzt seinen Weg fort, schließt sich dem Lauf meiner Flüsse an, dringt in meine Ohren und in mein ganzes Revier. Der Junge nimmt seine Pflanzenkunde wieder auf. Ich möchte ihn am liebsten treten, mit beiden Füßen. Ich finde sein helles Lachen gemein. Er arbeitet weiter. Er sieht nicht, dass der Strauch, für den er sich interessiert, noch ganz jung ist, er pflückt die Blätter, ohne zu wissen, wie alt der Saft im Stiel ist, ohne die Farbe der Triebe zu beachten, die von der Unreife der Pflanze zeugen, oder den spitz zulaufenden Schaft, der ohne sein Geäst nicht überleben wird. Er setzt seine Schere an, schneidet zu viel, schneidet schlecht. Auf einmal spüre ich die Schere an meinen eigenen Fingern, meinen Armen und Beinen, Ookpik zerschneidet uns beide, mich und das Mutterkraut, und merkt es nicht einmal.

'ES BERUHIGT MICH, DASS ICH DEN WEG ZU DEM TEIL IN MIR NOCH KENNE, DER WILD IST UND FREI.' Im Norden Kanadas wird das Mädchen Daã von den vierundzwanzig Schwestern eines Konvents großgezogen, und von der Taiga. Auf Streifzügen durch die Wildnis lernt es nicht nur grenzenlose Freiheit kennen, sondern auch die Sprache der Natur zu verstehen und als Teil von ihr zu leben. Furchtlos, unabhängig und willensstark entwickelt sich Daã zu einer Nomadin, die auf niemanden angewiesen ist - bis sie dem jungen Arzt Laure verletzt vor die Füße fällt. Laure sind stolze Andersartigkeit und Eigensinn fremd. Aufgewachsen zwischen Armut und Hunger in den Hütten einer Minengesellschaft und als Albino unablässigem Spott ausgesetzt, sehnt er sich nach Zugehörigkeit. Zwischen ihm und Daã entwickelt sich eine außergewöhnliche Beziehung. Als sie ins Dorf ziehen, wo Laure eine Praxis übernimmt, und gemeinsame Kinder bekommen, verlangt er von Daã nicht, sich den Erwartungen der Dorfgemeinschaft zu fügen. Dennoch wird sie von den Frauen bald als Vertraute geschätzt. Aber zu erfahren, welche Gewalt die Zivilisation Menschen antut, und ihre eigene Ohnmacht zu erleben, löst Wut in ihr aus. So trifft sie eine Entscheidung, die schwerwiegende Folgen hat. 'Audrée Wilhelmy verlustiert sich in Erwartungshorizonten, vergnügt sich mit Worten, und legt dann ein kriegerisches und wunderschönes Werk vor, das uns in Brand versetzt - trotz seiner Kälte.' Magazine Voir

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Autor Wilhelmy, Audreé
Verlag S. Marix Verlag GmbH
ISBN 9783737412285
ISBN/EAN 9783737412285
Lieferzeit 5 Werktage (inkl. Versand)
Erfassungsdatum 08.12.2023
Lieferbarkeitsdatum 06.04.2024
Einband Gebunden
Format 2.8 x 20.5 x 13.8
Seitenzahl 296 S.
Gewicht 433