Alexa Geisthövel/Habbo Knoch

Orte der Moderne

Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts
376 S. Seiten,Paperback
9783593505855
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Einleitung Alexa Geisthövel/Habbo Knoch Mitten auf dem hektischen Berliner Alexanderplatz sehnt sich Franz Biberkopf ins Gefängnis zurück. Im gleichnamigen, 1929 erschienenen Roman Alfred Döblins steht er nach langer Haft ungeschützt im Strudel der modernen Stadt. "Hundert blanke Scheiben" blitzen bedrohlich, Passanten wirken wie Schaufensterpuppen und Häuserfronten bieten keine Zuflucht. Biberkopf bricht zusammen, kehrt aber wie gebannt mehrfach zurück. Er fängt an, den Platz und sein Gedränge zu beobachten: "Rumm rumm" wuchtet vor Aschinger, der Bierschwemme mit "Konzert und Großbäckerei", eine Dampframme Eisenstangen in den Boden. Rund um den Platz stehen Bauzäune, ein altes Kaufhaus wird abgerissen. "Ruller ruller fahren die Elek-trischen, [.] Abspringen ist gefährlich. Der Bahnhof ist breit freigelegt, Einbahn-straße nach der Königstraße an Wertheim vorbei." Die Schutzpolizei "beherrscht gewaltig den Platz" und regelt den Verkehr. Auf ihr Signal hin "ergießt sich der Norden nach Süden, der Süden nach Norden". Viele "biegen auch seitlich um, von Süden nach Osten". Dabei geben sich die Fußgänger "so gleichmäßig wie die, die im Autobus, in den Elektrischen sitzen". Biberkopf kapituliert angesichts dieser Apathie: "Was in ihnen vorgeht, wer kann das ermitteln, ein ungeheures Kapitel." Er bleibt ein Fremdkörper in der Stadt. Restaurant, Tram, Bahnhof, Warenhaus, Autobus, Straßenkreuzung: Seine Sinne sind den modernen Verkehrsmitteln, Gebäuden und Bewegungen nicht gewachsen. Die Stadt im Umbruch lässt ihm dafür auch keine Zeit. Am heutigen Alex sind Aschinger und Wertheim verschwunden, doch die Szenerie ist vertraut geblieben: Vergnügungslokale, Grandhotels und Kinos bieten immer noch ihre Dienste an, Bahnhöfe, U-Bahn-Stationen und Ampelkreuzungen sind nach wie vor Knotenpunkte der modernen Bewegungsgefährte. Wo Biberkopf Bauzäune sah, entstanden erste Hochhäuser und neue Großraumbüros, deren Etagen durch Aufzüge verbunden waren. Über den Himmel, für den Biberkopf kaum einen Blick übrig hatte, zogen schon zu seiner Zeit Flugzeuge. Bahnen und Autos verbanden damals wie heute Stadtrandsiedlungen mit dem Zentrum. Wer es sich leisten konnte, fuhr mit ihnen an den Strand. Wer heute städtische Räume, aber auch manche Landschaft durchstreift, sieht sich von einer Fülle von Orten umgeben, die zwischen 1870 und 1930 in der Zeit der "klassischen Moderne" entstanden. Sie haben die räumlichen Erfahrungen des modernen Menschen bis in die Gegenwart geprägt. Bahnhöfe, Fabriken und Passagen machten nach 1830 den Anfang. Ihre Verbindung von technischem Fortschritt und neuen Verhaltensformen krönten pathetische Deutungen, die sie als Träger der Zukunft sahen. Große Bahnhofshallen avancierten zu repräsentativen Schauseiten der Stadt und zu Orten einer funktionalen, rationell gestalteten Bewegungsführung; Passagen boten in luxuriösem Ambiente eine Vielzahl von Waren an und brachten auf engstem Raum Konsumenten verschiedener Schichten zueinander, die neue Fertigkeiten des Beobachtens, Kommunizierens und Verhaltens erlernen mussten. Doch Zahl und Reichweite solcher erlebter Welten nahm erst in den Jahrzehnten um 1900 erheblich zu. Im Zuge der zweiten, auf Elektrizität fußenden Industri-alisierung und der Urbanisierung, in der die Großstadt zur "Synchronisationsma-schine" (Armin Nassehi) des modernen Lebens wurde, durchdrangen diese Orte und die Prinzipien ihrer Raumorganisation mehr und mehr das öffentliche und private Leben. Sie übernahmen ausdifferenzierte Funktionen, machten Angebote für bislang unbekannte Bedürfnisse und wuchsen zu einem Ensemble städtischer und ländlicher Orte zusammen, die untereinander vielfältig vernetzt waren. Orte des Bewegens und Erkundens, des Vergnügens und Vermittelns, des Begegnens und Zerstörens begründeten eine neue räumliche Ordnung der Erfahrung. Wie Bahnhof und Eisenbahn die Poststation und die Kutsche nach und nach abgelöst hatten, so drängten auch spätere Orte der Moderne manchen Konkurrenten zur Seite. Völkerkundemuseen machten den "Völkerschauen" die Besucher streitig, Einkaufsläden an Straßenpassagen zielten auf ähnliche Kundschaft wie die Warenhäuser. Teils übernahmen die neuen Orte einzelne räumliche Elemente ihrer Vorgänger, teils bestanden Orte aus verschiedenen Zeiten nebeneinander fort und beeinflussten einander; repräsentative Architektur etwa orientierte sich lange an der Kirche oder dem Fürstenhof. Viele Konflikte, die aus dem Zusammentreffen von bestehenden und neuartigen Raumstrukturen erwuchsen, sind bis heute nicht gelöst, so etwa die Frage nach der ökologischen Verträglichkeit von Agrarbetrieben oder nach der Sicherheit von Fußgängern und Fahrradfahrern im Autoverkehr. Mit den Orten der Moderne hielten neuartige Formen, Raum zu gestalten, zu nutzen und wahrzunehmen, Einzug: Menschen und Orte wurden durch neue Ver-kehrsmittel wie das Flugzeug oder durch Kommunikationstechniken wie die Zei-tungsredaktion oder die Telefonzentrale dichter und schneller miteinander vernetzt. Indem Stadtzentren und Wohngebiete getrennt wurden, entstanden das städtische Appartement und die mehr oder weniger familientaugliche Stadtrandsiedlung. U-Boot, Bunker oder Raumschiff ließen ihre Nutzer Isolation in Abhängigkeit von modernen Versorgungstechniken erfahren. Im Alltag übernahmen entlegene und medial kaum präsente Orte wie der Agrarbetrieb oder der Staudamm zentrale Aufgaben der Infrastruktur. Bisher unbekannte Gefahren und Risiken prägten das Bild vieler moderner Orte, auch Ängste vor bleibenden Schäden ihrer Nutzerinnen und Nutzer, wie die frühe Wahrnehmung des Kinos oder des Autos zeigt. Viele Bedrohungsszenarien machten sich am Körper fest. Forscher in Laboratorien arbeiteten daher an seiner Optimierung, immer mehr Menschen bemühten sich um ihre Figur in Krafträumen oder bewunderten trainierte Körper im Stadion. Arbeitstechniken der industriellen Moderne wie das Fließband basierten dabei weniger auf hochtechnologischen Erfindungen als auf räumlichen Neuordnungen und der Anpassung der Arbeiterinnen und Arbeiter an diese Produktionsform. Dem entsprach, etwa im Arbeitsamt, die bürokratische Durchdringung der Lebenswelt mit Registrierungen und Verhaltensauflagen. Auch im politischen Raum war die Organisation und Steuerung des Parteilebens oder der demokratischen Wahl mit signifikanten Räumlichkeiten wie Parteizentrale oder Wahlkabine verbunden. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts sind weitere Orte hinzugekommen, solche der Hochtechnologie wie das Atomkraftwerk, aber auch der Abenteuerspielplatz oder der Frauenbuchladen, die ein bestimmtes Zeitkolorit tragen. Seitdem sich Digitalisierung, Biochemie und Neurowissenschaft als neues Paradigma des Fortschritts durchsetzen, scheint der "virtuelle Raum" einen neuen Einschnitt zu markieren, der "Nicht-Orte" entstehen lässt (Augé 1994) und den Raum zum Verschwinden bringt (Virilio 1995). In der Tat erweitern sich damit räumliche Erfahrungen, aber bereits in der klassischen Moderne sollte der Körper in Illusionskabinetten oder im Kino in eine andere Wirklichkeit versetzt werden. Womöglich stellen die neuen Informationstechnologien in dieser Hinsicht keinen fundamentalen Wandel für die Raum- und Kommunikationserfahrungen dar und sind eher Teil jenes dauernden Umbruchs, den schon Franz Biberkopf miterlebte: Entstandenes wird optimiert, verfeinert und mit einem neuen Stil versehen; Konsumangebote werden rationeller gestaltet, Arbeitsfelder weiter automatisiert, aber das Grundverhältnis von Arbeit und Erholung löst sich nicht auf. Seit den dreißiger Jahren haben sich die zuvor entstandenen modernen Orte ausgeweitet, sind breiteren Schichten zugänglich geworden und haben sich in Zahl und Funktion vervielfältigt. Wenn hier von "Orten der Moderne" gesprochen wird, sind nicht zuerst be-stimmte Orte gemeint, auch wenn die Texte dieses Bandes alle mit einem konkreten Beispiel beginnen. Vielmehr wird darunter ein Typus verstanden, der den drei-dimensionalen Raum auf eine b...

Was haben Kino, Kraftraum und Flugzeug, Bunker, Zeitungsredaktion und Appartement gemeinsam? Sie alle sind Orte, in denen sich alltägliche Erfahrungen auf engstem Raum verdichten - Erfahrungen, die viele Menschen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts teilen und die bis heute unsere Lebenswelt prägen. Technik, Mobilität und Kommunikation stehen dabei für den Fortschritt; Erfahrungen von Isolation, aber auch Autonomie und Individualisierung für dessen Folgen.

Alexa Geisthövel, Dr. phil., ist Habilitationsstipendiatin an der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Universität Bielefeld. Habbo Knoch, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göttingen.

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Autor Alexa Geisthövel/Habbo Knoch
Verlag Campus Verlag
ISBN 9783593505855
ISBN/EAN 9783593505855
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Erfassungsdatum 04.02.2016
Einband Paperback
Format 2.5 x 23 x 15.5
Seitenzahl 376 S.
Gewicht 544