Honigmann, Barbara

Ein Kapitel aus meinem Leben

144 S. Seiten,Gebunden
9783446205314
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Meine Mutter und Onkel Wito gingen als Feinde auseinander, während mein Vater meiner Mutter bis zu seinem Lebensende, über mehrere Ehen hinweg, ein Freund blieb. Mein Vater hat mir sogar einmal gesagt, die Bindung an meine Mutter sei von Anfang an aus mehr freundschaftlichen Gefühlen erwachsen und nicht aus einer Leidenschaft der Liebe, deshalb war ihnen die Scheidung wohl besser gelungen als ihre Ehe, nach deren Zerbrechen die Freundschaft erst ihre eigentliche Form finden konnte. Mein Vater sah sich sowieso als jemand, der kein Glück in der Liebe fand, alle seine Frauen und Geliebten seien ihm fremd geblieben, zog er einmal traurig Bilanz. Mein Vater sprach oft mit mir über seine Frauen und Ehen, und ich fühlte mich davon auf ähnliche Weise überfordert wie von der Schweigsamkeit meiner Mutter über diese Dinge, die sie selber 'Diskretion' nannte. Um aus diesen Fremdheiten mißlungener Lieben vielleicht noch irgend etwas zu retten, war es meinem Vater wichtig, nein forderte er, daß alle Frauen und Geliebten miteinander befreundet sein oder sich wenigstens Mühe geben sollten, miteinander auszukommen, und auch von mir forderte er das. Und so kam es, daß ich ausgerechnet in Leipzig bei den Eltern der dritten Frau meines Vaters, mit der er im übrigen gerade in Scheidung lag, zum ersten Mal den Namen aussprechen hörte, den ich immer nur als Schriftzug gekannt hatte. Ab und zu verbrachte ich nämlich ein Wochenende bei diesem Paar, das ich ganz aufrichtig als Stiefgroßeltern annahm, denn Großeltern hatte ich ja nicht, und sie 'adoptierten' mich leicht, weil sie umgekehrt kein ande- res Enkelkind besaßen. Käthe und Ferdinand waren ein altes Schauspielerehepaar, das noch etwas von der Zeit der avantgardistischen 20er und frühen 30er Jahre ausstrahlte, noch jetzt lebten sie, unbürgerlich, libertär und ein bißchen exzentrisch. Bis zur Hinrichtung von Käthes Geliebtem durch die Nazis sollen sie sogar in einer menage a trois und teilweise auch a quatre gelebt haben. Wegen dieser libertären Einstellung fiel es ihnen leicht, den großen Altersunterschied zwischen ihrer Tochter und meinem Vater zu akzeptieren, mit dem sie auch noch Erinnerungen aus der Wandervogelzeit und an die hessische Heimat teilen konnten, oftmals fielen sie dabei in den hessischen Dialekt, so daß ich kaum ein Wort verstehen konnte. Während ihrer menage a trois- und quatre-Zeit hatten sie Kontakte zur Roten Kapelle gehabt, in diesem Zusammenhang war er, Käthes Geliebter, hingerichtet worden. Käthe und Ferdinand trauerten gemeinsam um ihn, wie sie um ihren Sohn trauerten, der fast gleichzeitig an der russischen Front gefallen war. Und wie Schauspieler das tun, hielten sie sich aufrecht, wußten, daß sie ihre Rollen zu Ende zu spielen hatten, bis der Vorhang fällt und die Vorstellung zu Ende ist. Seit dieser Zeit ihrer Beziehung zur Roten Kapelle interessierte sich Ferdinand für Konspiration, Spionage und Geheimdienst, und er entwarf gerade das Projekt, eine Biographie des Admirals Canaris zu schreiben, als ausgerechnet an einem der Wochenenden, die ich bei ihnen verbrachte, die ganze Geschichte von Kim Philby ans Tageslicht kam. Vor Ferdinands Fernseher fiel es mir wie Schuppen von den Augen, als ich den Namen, den ich so oft gelesen hatte, immer wieder hörte, in all den Sendungen, die von morgens bis abends liefen und immer nur dasselbe berichteten, etwas, das Ferdinand in wahnsinnige Erregung versetzte. Stell dir das vor, Doppelagent! Superagent! größter Spion aller Zeiten! Dreißig Jahre hat er die ganze Welt an der Nase herumgeführt! belogen! betrogen! - ein englischer Gentleman, Upperclass-Sohn für den KGB! Und Ferdinand wußte nicht, ob er Kim Philby mehr bewundern oder mehr verachten sollte, bewundern für das gelungene Falschspiel, den perfekten Wechsel der Maske ohne Kratzer, für die übermenschliche Verleugnung, und verachten für den Verrat, die heimliche Machtausübung, hinter der nur Phantasien von Größenwahn stecken könnten, wie er mir erkl ...

"Ein Kapitel aus meinem Leben", so nannte Litzy mit betontem Understatement den heikelsten Teil ihres ungewöhnlichen Lebens: ihre Ehe mit dem weltberühmten "Meisterspion" und Doppelagenten Kim Philby. Barbara Honigmann erzählt nüchtern, poetisch und komisch das unglaubliche Leben ihrer eigenen Mutter, einer Agentin und Emigrantin, Jüdin und Kommunistin, im Europa der Kriege und Diktaturen. Die bewegende Geschichte einer außergewöhnlichen Frau.

Barbara Honigmann, 1949 in Ost-Berlin geboren, arbeitete als Dramaturgin und Regisseurin. 1984 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Straßburg, wo sie noch heute lebt. Honigmanns Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Kleist-Preis, dem Max-Frisch-Preis der Stadt Zürich, dem Jakob-Wassermann-Preis, dem Bremer Literaturpreis 2020, dem Jean-Paul-Preis 2021 und zuletzt dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2022. Bei Hanser erschienen Damals, dann und danach (1999), Alles, alles Liebe! (Roman, 2000), Ein Kapitel aus meinem Leben (2004), Das Gesicht wiederfinden (2007), Das überirdische Licht (Rückkehr nach New York, 2008), Chronik meiner Straße (2015), Georg (2019) und Unverschämt jüdisch (2021).

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Autor Honigmann, Barbara
Verlag Carl Hanser Verlag GmbH & Co.KG
ISBN 9783446205314
ISBN/EAN 9783446205314
Lieferzeit 5 Werktage (inkl. Versand)
Erfassungsdatum 10.05.2004
Lieferbarkeitsdatum 02.03.2016
Einband Gebunden
Format 1.7 x 20.9 x 13.2
Seitenzahl 144 S.
Gewicht 263