Amurri, Lorenzo

Bis ich wieder atmen konnte

263 S. Seiten,Kartoniert
9783947767090
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KAPITEL 1: Zwischen Traum und Wirklichkeit Es ist fast Mittagszeit. Ich fahre gerade Ski zusammen mit meiner Freundin, also eigentlich fahre ich ihr voraus, denn sie ist zu langsam. Es ist fast Mittagszeit. Mein Gesicht steckt im Schnee. Ich höre nichts mehr, so als wäre ich in einem Wattebausch. Ich kann nicht atmen. Jemand nimmt meinen Kopf zwischen die Hände und dreht ihn um: Ich atme wieder. Jetzt bin ich in einer Art Garage, es sieht aus wie in einer Autowerkstatt. Es kommt mir so vor, als hätte ich eine Person vor mir, die mir den Rücken zudreht, und eine hinter mir, die meinen Kopf berührt, aber ich kann sie nicht klar erkennen. Ich habe Durst. Jemand gibt mir zu trinken. Ich spüre, wie die kühle Flüssigkeit bis hinunter in meinen Magen rinnt und noch weiter; ich spüre sie in der Blase und kann sie dort nicht halten; dann spüre ich sie zwischen meinen Beinen - das ist sehr schön, vergleichbar mit einem Orgasmus. Die Garage ist der Rettungshubschrauber, der mich ins Krankenhaus transportiert. Ich bin wach, aber mein Bewusstsein irrt geschockt umher und baut sich eine Verteidigung aus Halluzinationen auf, die das verwischt, was in Wirklichkeit geschieht. Man wird mir später sagen, dass viele, die nach schweren Unfällen im Hubschrauber transportiert werden, berichten, in einer Garage gewesen zu sein; man wird mir auch sagen, ich hätte bei der Ankunft in der Notaufnahme erzählt, jemand habe mir zu trinken gegeben, was einen Moment allgemeiner Panik verursachte. Wenn das tatsächlich jemand getan hätte, wäre ich nicht mehr hier, um zu schreiben. Es überrascht mich, zu sehen, dass sie an der Strandpromenade von Ostia ein amerikanisches Krankenhaus errichtet haben. Auch die Krankenwagen sind amerikanisch: klobig, fast quadratisch und voller Lampen und Blinklichter. Ich liege auf der Motorhaube eines Autos direkt vor dem Eingang, um mich herum tobt eine Schlacht. US-Marines kämpfen gegen Guerilleros einer nicht näher definierten afrikanischen Ethnie: Rauch, Projektile, Explosionen. Ich schaffe es nicht, aufzustehen. Ich glaube nicht, dass ich verletzt bin, habe aber große Schwierigkeiten, mich zu bewegen, ich kann nur ein passiver Zuschauer dessen sein, was vor sich geht. Die Afrikaner versuchen einen Staatsstreich, gegen welchen Staat, könnte ich nicht sagen, und sprengen sich in die Luft. Aber nicht wie die islamischen Terroristen mit einer Ladung TNT - diese hier fangen an zu glühen wie Lava und gehen in die Luft. Es sieht aus wie eine chemische Reaktion, eine Art explosive Selbstentzündung. Über dem Eingang zur Notaufnahme ist ein goldfarbenes rechteckiges Gitter. Dahinter versteckt sich ein Guerillero, der allmählich die Farbe wechselt: von Schwarz über Orange bis hin zu Feuerrot. Ich versuche verzweifelt, auf mich aufmerksam zu machen, um die Marines zu warnen, schaffe es aber nicht, zu schreien: Aus meinem Mund kommt kein Ton. Ich drehe mich auf die Seite und sehe einen großen Bus, einen Reisebus. Er steht vor mir und teilt sich in der Mitte: durch irgendeine Vorrichtung trennt sich der hintere vom vorderen Teil, bleibt jedoch mit ihm verbunden. Die Karosserie teilt sich, während das Fahrgestell sich verlängert. Seitlich steht eine Plattform mit einem Loch in der Mitte heraus, über dem ein glühender Guerillero hängt. Unter der Plattform, wo noch eine Minute vorher Asphalt war, öffnet sich ein gewaltiger Abgrund. Die Szene erinnert vage an ein Piratenschiff, bei dem jemand von einem Brett in ein Meer voller Haifische springen muss. Tatsächlich wird der schwarze Mann in das Loch gestürzt, bevor er explodiert. Plötzlich finde ich mich im Inneren des Busses wieder. Ich sitze vorn, und die Rückenlehne des Sitzes ist vollständig nach hinten geklappt. Neben mir steht ein weißhaariger Mann und spricht mich an: "Bist du der Sohn von Antonio und Milvia?" "Ja." "Dann musst du dir keine Sorgen machen, es wird dir nichts geschehen." Die Stimme des Mannes ist fest und beruhigend, aber ich habe Angst vor ihm: Er ist der

Sex, Drugs & Rock'n Roll - so lautet das Motto des passionierten Musikers und Sportlers Lorenzo, bis ihn mit 26 Jahren das Schicksal einholt: Bei einem Skiunfall verletzt er sich an der Wirbelsäule, wird querschnittsgelähmt. Fortan ist er an den Rollstuhl gefesselt, seine Hände kann er nicht mehr bewegen, vom alten Ich bleibt kaum etwas übrig. Nach langen, schmerzhaften Monaten in einer Reha-Klinik beschließt er, sich selbst noch mal eine Chance zu geben und kämpft sich zurück ins Leben. Wie nach einem langen Tauchgang kann endlich wieder Luft holen. Amurris autobiografische Erzählung ist atemberaubend intensiv. Kristallklar erzählt, emotional zutiefst ergreifend und flüssig im Stil, lässt sie uns mit dem Protagonisten leiden, hoffen, lachen. Es ist wie ein Sog, der uns dieses Buch kaum aus der Hand legen lässt. Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Europäischen Union und Finalist des Premio Strega Übersetzt von Ruth Mader-Koltay. Titel der Originalausgabe: Apnea

Lorenzo Amurri (1971-2016) war Musiker und Musikproduzent. 1997 begann er zu schreiben, nachdem er infolge eines schweren Skiunfalls von der Brust abwärts gelähmt war. Mit seinem ersten Werk, dem autobiografischen Roman Apnea (Fandango Libri, 2012), war er unter den Finalisten des Premio Strega 2013 und erhielt den Literaturpreis der Europäischen Union im Jahr 2015. Ebenfalls bei Fandango Libri erschien 2014 sein zweiter Roman Perché non lo portate a Lourdes?, Tagebuch der Pilgerfahrt eines Nichtgläubigen. Lorenzo Amurri starb im Jahr 2016.

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Autor Amurri, Lorenzo
Verlag nonsolo Verlag UG
ISBN 9783947767090
ISBN/EAN 9783947767090
Lieferzeit 5 Werktage (inkl. Versand)
Erfassungsdatum 20.04.2022
Lieferbarkeitsdatum 13.02.2023
Einband Kartoniert
Format 2.2 x 21 x 13.7
Seitenzahl 263 S.
Gewicht 320