Müller, Margit

Petrit

Eine Burrnesha geht ihren Weg
360 S. Seiten,Kartoniert
9783039770304
13,90 €
Inkl. 7% Steuern , exkl. Versandkosten
Lieferzeit: Vorbestellbar

Verzweiflung Melina lehnte sich an den Fensterrahmen, ihr weißes, knöchellanges Nachthemd mit dem Spitzenbesatz auf der Brust erinnerte an längst vergangene Zeiten. Ihre Großmutter hatte es lange getragen. Erinnerungen waren manchmal eine wunderbare Fluchtmöglichkeit. Ein Halt, um sich wenigstens an etwas Gutes festzuhalten. Melinas blondes, langes Haar umschmeichelte sanft ihre Schultern und fand seinen Abschluss in der nostalgischen Spitze, die ihre Brüste um-spielte. Das spitze Kinn, der besorgte Blick in ihren Augen zeugten von Angst, aber auch von Mut, nicht nachzugeben, sich den Tatsachen zu stellen. Die schmale Nase, die hohen Wangen-knochen, die kleinen Grübchen um die Mund-winkel unterstrichen ihre Weiblichkeit. Ein tiefer Seufzer verschaffte Melina ein wenig Erleichterung, sie spürte, wie die kühle Luft in sie eindrang. Langsam hob sich ihr Brustkorb. Ein leichter Schauer überlief sie, unter dem feinen Stoff stellten sich die Härchen auf ihren Armen auf. Sie fröstelte. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheibe, die Morgensonne kämpfte sich durch die dichten, dunklen Regenwolken. Von irgendwoher hörte man die Kirchenglocken sechs Uhr schlagen. Der Wind pfiff durch die Ritzen der Fenster, die Gardinen bewegten sich im Rhythmus des Win-des. Ein Wohnblock, der in die Jahre gekommen war, der eine Grundsanierung bitter nötig gehabt hätte. In der Küche war es kühl. Sie war spartanisch eingerichtet. Ein alter Herd, ein Kühlschrank, der wackelige Küchentisch mit zwei Stühlen aus den siebziger Jahren, die eigentlich auf dem Sperrmüll ihr Heil hätten finden sollen. Der Linoleumboden war einmal beige gewesen, aber die Jahre hatten ihn zu einem hellen Khaki verblassen lassen. Der Gang zwischen Tür und Tisch zum Herd war nicht zu übersehen. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke und berührten den Boden, Herd und Tisch warfen Schatten auf den Boden, langsam krochen sie an der Wand hoch. Das Licht war seit zwei Tagen ausgefallen. Die Stromrechnung war im Moment unbezahlbar, um halb neun würde der Gerichtsvollzieher kommen und den alten Schreibtisch aus dem 18. Jahr-hundert mitnehmen - das letzte Erinnerungsstück, das Melina von ihrer innig geliebten Großmutter geblieben war. Ein Erbstück, aber so konnte sie wenigstens mit dem Jungen in der Wohnung bleiben, hoffte sie. Und wer brauchte schon Strom? Es war völlig unklar, wie sie die Ölrechnung bezahlen sollte, zumal es in der hohen Altbau-wohnung an allen Ecken und Enden winterlich zugig war. Melinas Blick glitt hinunter in den Hof. Der rissige Betonboden war nass, kleine Pfützen hatten sich darin gebildet, in die sich der Regen mit kurzen Unterbrechungen immer wieder er-goss. Inzwischen waren die Tropfen immer größer und schwerer geworden, der Tag ließ trübe Aussichten erkennen. Die alte Eiche im Hof hätte viel zu erzählen ge-habt, jahrzehntelang hatte sie die Jahreszeiten miterlebt, Sommer wie Winter. Jetzt verrieten die wenigen Blätter, die noch an ihren Ästen hingen, dass die kalte Jahreszeit nahte. Melina hätte noch stundenlang am Fenster stehen und über die ausweglose Situation nachdenken können. Doch dann hörte sie einen fröhlichen, liebevollen Ruf: Guten Morgen, Mama! In diesem Moment läuteten die Kirchenglocken. Viertel vor sieben - seit einer geschlagenen Dreiviertelstunde stand sie hier? Mama? Der eindringliche Ton ließ Melina aufhorchen, holte sie in die Realität zurück. Sie drehte sich um. Strahlende Augen blickten sie fröhlich an. Mama, wann bekomme ich einen Hund? Das leidige Thema seit Wochen. Marvin, wir haben kaum etwas für uns und du willst einen Hund? Marvin setzte sich auf den Küchenstuhl, ver-schränkte die Arme und schaute beleidigt, die Grübchen um seine Mundwinkel ließen seine Mutter nicht verleugnen. Die störrischen braunen Stoppelhaare, die frechen blauen Augen - kein Zweifel, hier saß ein sechsjähriger Lausbub, der bald in die Schule kommen würde. Kratzer an Armen und Beinen zeigten, dass kein Zaun und kein Baum vor ihm sicher war. Melina öffnete den Kühlschrank, dessen Surren verstummt war. Ein halber Liter Milch, eine halbe Packung Cornflakes würden Marvins Laune sicher deutlich heben. Mit hungrigen Augen und einem überdimensio-nalen Löffel in der Hand schob er sich die Cornflakes genüsslich in den Mund. Auf seinem blauen Spiderman-Pyjama waren schon ein paar Spritzer Milch zu sehen, als er sich den nächsten Löffel in den Mund schob. Da Marvin wie viele Kinder in seinem Alter mehrere Dinge gleichzeitig tat, zum Beispiel essen und sprechen - eine sehr ungünstige Kombination - konnte Melina ihn kaum verstehen. Aber aus den Worten Hund und bester Freund schloss sie, dass das Thema Vierbeiner noch lange nicht vom Tisch war. Inzwischen war es halb acht. Marvin putzte sich die Zähne, die blaue Latzhose und der gelbe Pullover lagen über der Badewanne. Als er end-lich Schuhe und Jacke angezogen hatte, lief Marvin zum Kindergarten, der nur fünf Gehmi-nuten entfernt war. Ein Abschiedskuss und die Eingangstür schloss sich hinter ihm. Melina drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, ihre Hand umfasste noch die Klinke. Stille. Ihre Augenlider wurden schwer. Ihre Finger umklammerten noch immer die Türklinke, eine Gänsehaut kroch langsam ihre Beine hinauf. Viertel nach acht. Ein letzter Blick auf den Schreibtisch, der direkt vor ihr im Flur stand. Es half alles nichts. Mit zusammengepressten Lip-pen zog sie sich an. Das Klingeln der Türglocke durchfuhr ihren Körper wie ein Blitz. Mit selbstbewusstem Blick und einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel öffnete sie die Tür. Sie war ärmlich, aber nicht ungepflegt, sie pflegte sich sehr. Ihr Make-up war dezent, ihr Parfum sparsam. Sie öffnete die Tür, es war kein leichter Schritt, das war an ihren Bewegungen deutlich zu erkennen. Guten Morgen, Frau Menke! Guten Morgen, Herr Fray, kommen Sie rein! Nun, Frau Menke, es gibt wenige Menschen, die mir leidtun, sie sind eine seltene Ausnahme, aber der Schreibtisch wird Sie erst einmal über Wasser halten. Nun standen sie beide vor dem guten Stück. Machen wir es kurz, die Möbelpacker sind unten! Es war nicht der erste und leider auch nicht der letzte Besuch. Mit ruhigem Blick beobachtete Melina, wie die Männer stöhnend das massive Möbelstück hochhievten und durch die Tür balancierten. Ein kräftiger Händedruck mit dem typischen "Nimm's nicht so schwer ", Blick, verabschiedete sich der Gerichtsvollzieher kurz und schmerzlos. Der leichte Windhauch, der beim Schließen der Tür entstand, vermittelte Melina die Endgültig-keit. Wieder diese Stille. Irgendwie wollte sie nicht nachdenken, an Selbstmitleid dachte sie nicht im Entferntesten, aber der Unmut über die ausweglose Situation, in die sie geraten war, ließ Wut und Hass in ihr aufsteigen. Auf den Mann, dem sie das alles zu verdanken hatte. Wie hatte sie nur so dumm und naiv sein können! Die Bilanz der letzten Jahre lag ihr schwer im Magen. Die Erinnerung daran, wie das Unglück seinen Lauf genommen hatte, holte sie besonders an diesem Morgen wieder ein. Die Worte ihres Ex-Mannes, von dem sie seit einem Jahr ge-schieden war, klangen ihr noch in den Ohren. Wie er voller Überzeugung vor ihr gestanden hatte, wie er ihr voller Hingabe seine Idee vorgetragen hatte. Das wird schon. Sie hätte es wissen müssen, er war nie besonders fleißig und arbeitswillig ge-wesen. Und immer neue verrückte Ideen kamen ihm in den Sinn, sie hätte viel früher die Reißleine ziehen müssen. Aber da war ja Marvin. Den Vater wollte sie ihm nicht nehmen. Obwohl der auch nicht gerade ein Vorzeigevater war. Aber sie hatte einfach die Augen vor den Tatsachen ver-schlossen. Er hatte von seinen besonderen Kontakten ge-schwärmt, dass er nur diese kleine, unscheinbare Summe von zwanzigtausend Euro für eine kurz-fristige Investition bräuchte, und alles würde gut werden. Melina stand wie angewurzelt im Flur, ihr Atem war ruhig und gelassen. Ihr Blick fiel auf die leere Stelle, an der der Schreibtisch gestanden hatte. Eri...

Die Deutsche Melina und die albanische Burrnesha Petrit, die von Geburt an als Junge erzogen wurde, sind zwei Frauen, die ein ähnliches Schicksal teilen. Melina droht ein Schuldenberg in die Knie zu zwingen, Petrit wünscht sich die Freiheit. Beide wollen ein besseres Leben. Gefangen zwischen den Geschlechtern hofft sie auf ein selbstbestimmtes Leben, der einzige Ausweg scheint auf beiden Seiten etwas Verbotenes zu sein - eine Scheinehe, die Melina das nötige Geld und Petrit die Aussicht auf einen lukrativen Job in Deutschland bringen soll. Doch Melina ahnt nichts von der wahren Identität ihres vermeintlichen Ehemannes Petrit.

Mehr Informationen
Autor Müller, Margit
Verlag 8280-edition.ch
ISBN 9783039770304
ISBN/EAN 9783039770304
Lieferzeit Vorbestellbar
Erfassungsdatum 14.06.2024
Lieferbarkeitsdatum 23.08.2024
Einband Kartoniert
Seitenzahl 360 S.