Hetrodt, Ewald

Die Unverfrorenen

Wie Politiker unsere Städte als Beute nehmen - Ein Exempel
176 S. Seiten,Paperback
9783737404846
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In Wiesbaden hat jeder ein Preisschild am Kopf." Volker de Boer muss es wissen. Der Immobilienkaufmann ist seit Jahrzehnten geschäftlich in der hessischen Landeshauptstadt unterwegs. Einen Namen machte er sich mit der Bebauung des Kurecks am nördlichen Ende der prachtvollen Wilhelmstraße. Es war über Jahre hinweg ein Schandfleck, aus dem ein leerstehendes Bürohochhaus herausragte. Als de Boer im Jahr 2016 wieder einmal eine Änderung des Bebauungsplanes anstrebte, lud er den Verfasser dieses Buches in seine "Lounge" ein, um ihm unter vier Augen exklusiv anzukündigen, dass er in dem Komplex am Kureck ein Hotel unterbringen werde. Das Gespräch war ihm wichtig, denn die Bevölkerung verfolgte das Projekt mit Argusaugen, immer auf neue, schlechte Nachrichten gefasst. Da ersparte sich viel Ärger, wer die Presse nicht gegen sich hatte. Es war ein Vormittag. Man trank einen Cappuccino, als der Gastgeber sich abrupt abwandte und einen Augenblick später mit einer teuren Flasche Rotwein aus einem Nebenraum zurückkehrte. Sie sollte ein Geschenk für den Gesprächspartner sein. Die Zurückweisung schien de Boer als Beleidigung aufzufassen. "Meinen Sie wirklich, dass ich Sie bestechen will? Mit einer Flasche Wein?" De Boer macht seinen Mitmenschen gern eine kleine Freude - wenn auch nicht immer ganz ohne jeden Hintergedanken. Im Jahr 2015 ließ er zu Weihnachten ein paar Magnumflaschen Champagner der Marke Bollinger im Wert von jeweils 150 Euro ins Rathaus liefern. Vorher hatte er im Büro des damaligen Oberbürgermeisters Sven Gerich (SPD) anrufen lassen. Dort sah man darin kein Problem, weil die Entgegennahme des Weihnachtsgeschenkes amtlich dokumentiert werde. Oliver Franz, der Kreisvorsitzende der CDU, schickte seine Flasche zurück, nicht ohne die Aktion unverzüglich der Presse zu stecken. Wer sonst noch bedacht wurde? "Das weiß ich gar nicht mehr", behauptet der Achtundsechzigjährige. Knapp ein Jahrzehnt lang hat der Verfasser aus der kommunalpolitischen Szenerie Wiesbadens berichtet. Zu seinen zahllosen Begegnungen gehörten auch Gespräche mit Michael Reichert, dem Chef der Agentur für integrierte Kommunikation RCC. Sie betreut in der hessischen Landeshauptstadt seit vielen Jahren so gut wie alle lukrativen Projekte der kommunalen Unternehmen und viele Großinvestitionen privater Firmen. Die Rechnungen erreichen oft exorbitante Höhen. Misstrauen kam auch auf, als der langjährige Fraktionsvorsitzende der CDU, Bernhard Lorenz, auf unterschiedlichen Ebenen, an vielen Fronten und gegen Widerstände auch in der eigenen Partei dafür kämpfte, auf dem Taunuskamm im Nordwesten Wiesbadens Windräder zu errichten. Diese Positionierung ließ sich angesichts der Umstände kaum nachvollziehen. Darum drängte sich die Frage auf, ob Lorenz in seinem Engagement vielleicht von anderen als inhaltlichen Motiven geleitet wurde. So wandte sich der Autor im April 2016 schriftlich an das Unternehmen, das den Großteil der geplanten Anlagen herstellen und liefern sollte. Die Frage lautete, ob der Betrieb geschäftliche Beziehungen zu dem Wiesbadener Rechtsanwalt Lorenz unterhalte. Ein paar Tage später kam die Antwort: nein. Der Verdacht hatte sich nicht bestätigt. Allerdings traf nur ein paar Sekunden nach der Mail des Unternehmens eine elektronische Nachricht von Lorenz ein. Sie bestand aus einem einzigen Zeichen, einem lachenden Emoji. Die in Wiesbaden herrschenden Umgangsformen vermitteln eine Ahnung von einer politischen Kultur, die sich über zwei Jahrzehnte hinweg herausgebildet hat. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das Beben verstehen, das die Stadt gegen Ende des Jahres 2018 erfasste. Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) entließ Ralph Schüler (CDU), einen der beiden Geschäftsführer der städtischen Holding, die als eine Art Konzernmutter aller kommunalen Unternehmen funktioniert. Schüler rächte sich postwendend, indem er von einem gemeinsamen Urlaub mit Gerich in Andalusien berichtete. Die teuren Hotels und Essen wollte er größtenteils allein bezahlt haben.

Es ist höchste Zeit, eine politische Kultur zu beschreiben, in der eine Koalitionsmehrheit im Rathaus einer Kommune, so wie es in den meisten deutschen Städten politische Realität ist, diese Stadt als Beute betrachtet und im Spiel von Gefälligkeiten und Gegengefälligkeiten alle Hemmungen fahren lässt. Am Beispiel der Stadt Wiesbaden zeigt Ewald Hetrodt, wie drei außergewöhnliche Charaktere - der Oberbürgermeister, ein einflussreicher Fraktionschef und der Geschäftsführer der städtischen Immobilien-Holding - sich der städtischen Gesellschaften auf schamlose Weise bedienten. Ein wahrer politischer Krimi und zugleich ein politisches Lehrstück über die strukturellen Schieflagen in vielen deutschen Großstädten.

Ewald Hetrodt, geboren 1963, hat in Münster, Straßburg und Bonn Politische Wissenschaften studiert. Eine Stelle im Bundestag bot ideale Bedingungen für eine Dissertation zur Gesetzgebung im deutschen Regierungssystem. Der Umzug nach Berlin war der Anlass, 1999 in die Stadt der Paulskirche zu wechseln - zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 2009 ist er FAZ-Korrespondent in der Landeshauptstadt Wiesbaden.

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Autor Hetrodt, Ewald
Verlag Weimarer Taschenbuch Verlag
ISBN 9783737404846
ISBN/EAN 9783737404846
Lieferzeit 5 Werktage (inkl. Versand)
Erfassungsdatum 06.05.2019
Lieferbarkeitsdatum 30.11.2020
Einband Paperback
Format 1.5 x 21 x 13.1
Seitenzahl 176 S.
Gewicht 254