Bevor der Morgen dämmert
1 Los Angeles, Kalifornien Juni 1942 Cecilia Hayes warf einen wehmütigen Blick auf das Heft mit den Lebensmittelkarten in ihrer Hand. Sie wusste, dass die Zuckerrationierung ihr Haus nicht allzu schmerzlich treffen würde. Selbst jetzt, da Jacqueline wieder bei ihnen wohnte, brauchten sie nicht viel Zucker. Keagan aß hin und wieder gern etwas Süßes, aber der Arzt hatte ihm nach seinem Herzinfarkt dringend geraten, auf sein Gewicht zu achten. Die Rationierung war also nur eine weitere Motivation für ihn. Die Gerüchte verdichteten sich, dass auch noch andere Lebensmittel rationiert werden sollten. Kaffee würde zum Beispiel bald auf diese Liste gesetzt werden. Cecilia hatte bereits zusammen mit ihrem Gärtner Manuel einen "Siegesgarten" angelegt und dafür einige Blumenbeete geopfert. Sie hatte noch nie zuvor Gemüse angepflanzt. Es machte sogar Spaß. Ehrlich gesagt, konnte sie sich kaum über die sogenannten Opfer für den Krieg beklagen. Sie und ihre Familie hatten von allem reichlich. Sie bezweifelte ernsthaft, dass irgendwelche Amerikaner Not litten, wenigstens fehlte es keinem an materiellen Dingen. Sehr schmerzlich war natürlich die Trennung von geliebten Menschen, die Angst, die Sorgen. Selbst die Familie Hayes mit ihrem ganzen Reichtum blieb von diesem Schmerz nicht verschont. Nicht einmal der Umstand, dass sie drei Töchter hatten, hatte sie davor bewahrt. Cecilias Blick wanderte durch die Glastüren ihres Arbeitszimmers, wo sie an ihrem kleinen Chippendale-Schreibtisch saß. Die friedliche Schönheit ihres Gartens, aus dem der Rosenduft vom leichten, warmen Juniwind durch ein offenes Fenster hereingetragen wurde, konnte den ständigen Stein in ihrer Magengrube nicht vertreiben. Als Mutter, die nur Töchter hatte, gab es für sie genauso viel Grund zur Sorge wie für Mütter, deren Söhne in den Krieg gezogen waren. Vielleicht hatte sie ja auch einen Sohn, der im Krieg war. Aber daran wollte sie gar nicht denken. Denn dieser Gedanke verwandelte den Stein in ihrem Magen in einen riesigen Felsbrocken. Es war schon schlimm genug, eine Tochter in Russland zu haben, wo Hitler einmarschiert war und wütete. Cameron war zwar nicht beim Militär, aber sie war Journalistin, und Cecilia befürchtete, dass ihre waghalsige älteste Tochter keiner Gefahr aus dem Weg ging. Sie war schon immer furchtlos und ehrgeizig gewesen und hatte alle Vorsicht in den Wind geschlagen, besonders wenn es darum ging, verwertbare Informationen auszugraben. Aber aus Camerons letztem Brief hatte sie herauslesen können, dass sie sich änderte, wenn auch nicht in ihrem Charakter und in ihrer Persönlichkeit, aber doch in einem Bereich, der mindestens genauso wichtig war. Sie hatte geschrieben, dass sie ihr Leben Gott übergeben habe. Das freute Cecilia grenzenlos, obwohl sie nicht im Detail wusste, was zu diesem verblüffenden Gesinnungswandel bei ihrer Tochter geführt hatte. Der Brief hatte sie nicht auf dem langsamen und unzuverlässigen Postweg, sondern über den Diplomatenweg, wie diese Form der Nachrichtenübermittlung genannt wurde, erreicht, genauer gesagt, über einen Freund im Außenministerium. Der Brief erweckte den Eindruck, als hätte Cameron ihn hastig geschrieben. Das Wie von Camerons neuem Glauben war im Grunde auch nicht wichtig. Cecilia tröstete es, dass Cameron nicht mehr allein durchs Leben ging. Und es sah so aus, als hätte sie diesen neu gewonnenen Glauben dringender nötig als je zuvor, denn ihr Weg war mit vielen schweren Steinen gepflastert. Sie hatte vom Tod ihres Freundes, John Shanahan, geschrieben, der Reporter beim Journal gewesen war. Auch wenn ihre Worte sehr knapp gewesen waren, hatte Cecilia eine tiefe Trauer darin gelesen. Außerdem hatte sie ihre Hoffnung und Freude in Bezug auf ihre Beziehung zu diesem russischen Arzt angesprochen, dessen Namen sie nicht zu nennen wagte, selbst dann nicht, wenn der Brief auf dem Diplomatenweg aus Russland geschmuggelt wurde. Aber Cecilia wusste besser als jeder andere, dass eine Beziehung zu einem Russen nur
1942-45: Über drei Kontinente verstreut, führt jede der drei Töchter des Zeitungsmagnaten Hayes ihren eigenen Kampf gegen das innere und äußere Chaos. Der Zweite Weltkrieg hat ihre Welt in Flammen gesetzt und ihre Familie zerrissen. In einem kalifornischen Internierungslager teilt Jackie mit ihrem frisch gebackenen Ehemann das harte Los der Amerikaner japanischer Herkunft. Doch irgendwie gehört sie nirgends mehr richtig dazu: Weder die Japaner noch die Amerikaner sehen sie als eine der ihren. Wird ihr Glaube ihr die Kraft geben durchzuhalten?
Judith Pella studierte Sozialwissenschaften und gilt als Meisterin des historischen Romans. Sie liebt es, gründlich zu recherchieren und in verschiedene Zeitepochen einzutauchen. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Oregon.
Autor | Pella, Judith |
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Verlag | Francke-Buchhandlung GmbH |
ISBN | 9783868276718 |
Blickfeldbestellnummer | 331671 |
ISBN/EAN | 9783868276718 |
Lieferzeit | Vorbestellbar |
Erfassungsdatum | 12.05.2017 |
Lieferbarkeitsdatum | 08.07.2022 |
Einband | Kartoniert |
Format | 3.7 x 18.7 x 12.5 |
Seitenzahl | 507 S. |
Gewicht | 491 |