Joubert, Irma

Sehnsuchtsland

480 S. Seiten,Gebunden
9783868275919
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Prolog Hildegard? Instinktiv schaut sie auf, blickt dann aber sofort wieder zu Boden. Hildegard von Plötzke? Sie hört das Erstaunen in seiner Stimme. Wahrhaftig, Hildegard von Plötzke aus Königsberg! Wie. wie um alles in der Welt bist du denn hier gelandet? Ja, wie um alles in der Welt ist sie hier gelandet? Und dazu noch auf diese Weise! 1. Kapitel Das Früheste, an das sie sich erinnern kann, ist ein gelber Lichtschein, der durch die Fenster fällt, und an Nanny, die sich über sie beugt, während sie in ihrem Kinderbettchen liegt. Aber das sind ganz vage Erinnerungen, so verblasst wie die Fotos im Album ihrer Mutter, das sie immer noch besitzt. Sie meint, sich auch noch daran erinnern zu können, wie Papa am oberen Ende eines sehr langen Tisches sitzt. Doch dieses Bild ist ganz und gar verschwommen. Vielleicht erinnert sie sich auch nur an ein Foto, das sie einmal gesehen hat und nun nicht mehr aus ihrem Kopf bekommt. Die Erinnerung an die rote Nacht, in der Nanny sie aus ihrem großen Bett gerissen hat, ist deutlicher. In dieser Nacht mussten sie aus Russland fliehen. Irgendwo schreien Menschen. Es ist dunkel und sie ist noch ganz verschlafen, ihre Augenlider sind so schwer, dass sie sie kaum öffnen kann. Da schreien tatsächlich Menschen. Irgendwo weit weg. Sie hört, wie die Tür geöffnet wird, bevor sie es sieht. Nanny stürmt herein. Komm, Hildegard! Bevor sie sich aufrecht hinsetzen kann, ist Nanny schon bei ihr, hüllt sie in ihre Decke und reißt sie aus dem Bett. Sie weiß nicht, was mit ihr geschieht. Nanny? Nanny sagt kein Wort. Sie rennt mit kleinen, schnellen Schritten aus dem Zimmer. Nirgendwo brennt Licht. Doch von draußen fällt ein roter Lichtschein herein. Warum ist alles so rot?, will sie wissen. Auf der Treppe holt Papa sie ein. Er reißt sie Nanny aus dem Arm. Holen Sie für das Kind Schuhe und eine Jacke und dann kommen Sie in mein Studierzimmer! Yes, Herr von Plötzke. Papa rennt mit ihr die Treppe hinunter, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nimmt. Still, sei ruhig! Seine rauen Bartstoppeln kitzeln sie an der Wange, der leichte Brandgeruch seines Schnauzers kribbelt ihr in der Nase. Sie hat Angst und drückt ihren Körper fester an die breite Brust ihres Vaters. Dieser rennt durch das Esszimmer hindurch ins Studierzimmer. Charlotte, ich hole Geld, sagt er schnell und geht zum Schrank. Mach erst die Tür auf, hört sie die Stimme ihrer Mutter sagen. Die Stimme hört sich seltsam an, irgendwie verkniffen. Dann zaubert ihr Vater. Er zaubert wirklich, denn das ist kein magischer Trick: Er steht vor dem Schrank und sagt leise etwas - sie meint, vielleicht hat er wirklich so etwas wie Abrakadabra gesagt - dann gleitet der gesamte Bücherschrank nach hinten weg. Papa? Er zündet eine Lampe an und reicht sie ihrer Mutter. Schnell, ich will nicht, dass irgendjemand das Licht sieht. Papa? Diesmal antwortet ihre Mutter: Hildegard, sei still. Daraufhin stellt sie keine weiteren Fragen mehr. Nanny nimmt sie an der Hand. Pass auf, da sind Stufen runter. Nanny spricht ein komisches Deutsch. Der Boden unter Hildegards nackten Füßen wird auf einmal eiskalt, das Licht wird schwach, es ist nur noch ein gelber Schein in der schwarzen Finsternis. Vorsichtig steigt sie die Treppe hinunter. Ihre Mutter geht mit der Lampe voraus. Es sind schmale Treppenstufen, die ungewöhnlich hoch sind. Ich kann nichts sehen, sagt sie zu Nanny. Mach schnell, Hildegard. Die Stimme ihrer Mutter klingt streng. Am unteren Ende der Treppe, tief im Bauch der Erde, tut sich vor ihr ein Gang auf. Verwundert bleibt Hildegard stehen. Dass es unter ihrem Haus einen geheimen Gang gibt, das hat sie nicht gewusst. Die bittere Kälte kriecht ihr nun langsam die Beine hinauf. Hinter ihr schiebt ihr Vater von innen die Tür zu und eilt hastig die Treppe hinunter. Er nimmt sie auf den Arm, jetzt sind ihre Füße nicht mehr kalt. So schnell sie können, schieben sie sich alle durch den engen Gang: vorneweg ihre Mutter mit dem Licht, dann Nanny mit der Federdecke und einem Kleiderbündel und am Schluss ihr Vater, der sie trägt. Irgendetwas stimmt nicht. Papa, was ist denn los? Nein, jetzt nicht, sei still. Am Ende des Gangs befindet sich eine Leiter und über ihr eine Falltür. Ihr Vater setzt sie ab, klettert die Leiter hinauf und öffnet die Tür. Komm schnell, Charlotte, und macht die Tür wieder zu, wenn ihr alle draußen seid. Sie klettert die Leiter hinauf, Nanny folgt ihr dicht auf den Fersen. Irgendwo schnaubt leise ein Pferd. Als schließlich auch ihre Mutter mit dem Licht hinaufkommt, sieht Hildegard zum ersten Mal, wo sie ist. Der Gang führt ja ins Warenlager. Nannys Stimme hört sich ein bisschen streng an. Ja, da bist du recht. Aber jetzt steig in die Kutsche, ich helfe deinem Vater mit den Pferden. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist furchtbar verkehrt. Ihr Vater macht sich an etwas zu schaffen und fängt an zu fluchen. Das ist schlimm, denn Fluchen ist Sünde und dann kommt der Teufel und holt die Leute. Das weiß sie, weil Nanny es ihr erzählt hat. Endlich klettert auch Nanny in die Kutsche und macht hinter sich die Tür zu. Schon setzt sich die Kutsche in Bewegung. Wo ist denn Papa?, fragt Hildegard wie benommen. Schhht! Nanny erstickt sie beinahe unter der Federdecke. Sie versucht sich aus der Decke zu wühlen, weil sie sehen möchte, was geschieht. Hildegard, sitz still!, schimpft ihre Mutter. Endlich bekommt sie den Kopf frei. Ich will wissen, wo Papa ist. Nanny spricht leise: Er fährt die Kutsche. Hier, zieh an deine Jacke. Und gib mir deine Füße, damit ich dir anziehen kann deine Schuhe. Jetzt ist sie sich sicher, dass etwas nicht stimmt. Ihr Vater hat noch nie auf dem Kutschbock gesessen. Warum denn? Hildegard, sei jetzt endlich still!, verwarnt ihre Mutter sie sehr streng. Da ist sie still. Durch die kleinen Fenster sieht sie verschwommen die Sterne über ihnen. Draußen ist es finster, der Mond ist nicht zu sehen, nur ein rotes Glühen überall. Als sie sich umdreht, kann sie hinter ihnen die Umrisse des großen Hauses erkennen. Wie ein dunkler Schatten steht es vor der roten Glut. Das große Eisentor steht sperrangelweit offen. Das ist auch verkehrt, denn das Eisentor steht sonst nie offen. Jetzt muss sie aber wissen, was los ist. Warum fahren wir, obwohl es dunkel ist?, fragt sie Nanny im Flüsterton. Was ist denn das für ein großes Feuer, da hinter dem Haus? Die Antwort kommt allerdings von ihrer Mutter und ihre Stimme hört sich merkwürdig an. Das waren die Bolschewisten. Wenn dein Vater beizeiten auf mich gehört hätte, dann wären wir jetzt nicht in diesem Schlamassel. Ich habe nichts mitnehmen können, gar nichts. Die Pferde fangen an zu traben, die Kutsche holpert ruckend hinterher. Meine Juwelen, meine Pelze, alles. Ihre Mutter hört sich sehr zornig an. Nanny sagt leise: Wir gehen für ein bisschen weg, Hildegard. Wir gehen für ein bisschen weg? Manchmal sind sie zu dem Haus am See gefahren, aber nur im Sommer, wenn es heiß war. Oder sie sind zum Herrn Baron von Schwarz gefahren. Ihr Vater geht dort zusammen mit anderen Männern auf die Jagd, während ihre Mutter dann mit anderen Frauen Tee trinkt. Aber nachts sind sie noch nie aufgebrochen. Fahren wir weg, weil da ein Feuer ist? Nanny bedeutet ihr, dass sie ruhig sein soll, und streicht ihr übers Haar. Ihre Mutter seufzt. Ach, erzähl dem Kind ruhig, was los ist. Ich habe keine Kraft mehr, mir seine ewige Fragerei anzuhören. Nanny tastet unter der Daunendecke nach ihrer Hand. Wir fahren für eine Zeitlang weg. Oh. Plötzlich fällt ihr etwas anderes ein. Ihr Herz beginnt zu springen und sie holt tief Luft. Nanny, heißt das.? Im selben Augenblick hallt der Knall eines Pistolenschusses durch die eisige Luft, unmittelbar danach ertönt ein zweiter. Hildegard zuckt vor Schreck zusammen. Die Pferde bäumen sich auf, die Kutsche schwankt gefährlich, mit einem Ruck setzt sie sich schneller in Bewegung. Die verängstigten Pferde laufen, so schnell sie können. Die Kutsche rattert hinterher und s...

1905 aus St. Petersburg geflohen, findet die kleine Hildegard mit ihrer Familie auf dem Landgut der adligen Vorfahren in Königsberg ein neues Zuhause. Das aufgeweckte Mädchen steckt voller Energie und Wissensdurst, sehnt sich aber zutiefst nach Liebe und Anerkennung. Als sie dem Studenten Gustav von Langner aus Deutsch-Südwestafrika begegnet, beginnt sie zaghaft zu träumen - vom Sehnsuchtsland Afrika und von Gustav. Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus und ihre Träume zerplatzen wie eine Seifenblase. Hildegard ahnt nicht, welch turbulente Zeiten ihr noch bevorstehen. Sie ahnt nicht, dass sie schon bald im Berlin der 20er-Jahre leben und nicht nur einen, sondern zwei Weltkriege wird meistern müssen. Vor allem aber ahnt sie nicht, welche Umwege das Leben sie noch führen wird, bevor sie endlich das findet, wonach sie sich am meisten sehnt: ein Zuhause.

Irma Joubert lebt in Südafrika. Sie studierte Geschichte an der Universität von Pretoria und war fünfunddreißig Jahre lang Lehrerin an einem Gymnasium. Nach ihrer Pensionierung begann sie mit dem Schreiben. Die Historikerin liebt es, gründlich zu recherchieren und ihre Romane mit detailreichen Fakten zu untermauern. In ihrer Heimat und den Niederlanden haben sich ihre historischen Romane zu Bestsellern entwickelt und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden.

Mehr Informationen
Autor Joubert, Irma
Verlag Francke-Buchhandlung GmbH
ISBN 9783868275919
Blickfeldbestellnummer 331591
ISBN/EAN 9783868275919
Lieferzeit Vorbestellbar
Erfassungsdatum 13.05.2016
Lieferbarkeitsdatum 21.10.2022
Einband Gebunden
Format 4.5 x 22.1 x 14.5
Seitenzahl 480 S.
Gewicht 678