Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen
Vorwort Es ist ein auffallendes kulturelles Phänomen unserer Zeit, dass zwar der Brief durch die E-Mail ersetzt worden ist, die Publikation von Briefen und Briefwechseln hingegen zugenommen hat. Das Interesse an der Lektüre von Briefen ist dabei nicht nur durch die Nähe zu lebensgeschichtlichen Kontexten zu erklären. Ein weiterer Grund liegt in der Adressierung der Briefe an ein Du in dem dialogischen Raum, den der Brief stiftet und der durch die Erweiterung auf ein drittes Du wie den Leser eine Art zweiter Gegenwart gewinnt. Diese dialogische Dimension ist in den Briefen Hannah Arendts deshalb so präsent, weil sie unbehelligt durch Konventionen nur der freien Einbildungskraft folgt. Hannah Arendt hat neben ihrem philosophischen und politischen Werk eine so große Anzahl von Briefen hinterlassen, dass man von einem Briefwerk sprechen kann, welches in keiner Weise als zweitrangig abgetan werden sollte. Und zwar nicht nur deshalb, weil die Briefe in vielfältiger Weise Fragen, die Arendt in ihren Büchern und Essays thematisiert hat, aufgreifen und weiterführen, sondern vor allem weil mit jedem Briefwechsel ein ganz eigenes Beziehungsgeflecht entsteht, das im Sinne ihrer Philosophie als 'Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten' angesehen werden kann, das nur aus subjektiven Begegnungen, Wahrnehmungen und Urteilen zusammengesetzt ist. Dieses Bezugsgewebe, in dem sich Nähe und Ferne zu bestimmten Konstellationen formen und das man als eine bewohnbare Distanz bezeichnen kann, hat in Arendts philosophischem und politiktheoretischem Denken über das Miteinandersprechen und -handeln einen großen Stellenwert. Für diejenigen, die 'in keinem Besitz verwurzelt sind und darum ihr Milieu gewissermaßen immer mit sich herumtragen oder richtiger darauf angewiesen sind, es immer neu zu produzieren', die als Emigranten in einem existenziellen Sinn unterwegs sein müssen, wird der Brief zu einem unverzichtbaren Mittel, Zusammenhänge stiften zu können. Diesen Zusammenhängen gibt Arendt den Namen Freundschaft. Die Freundschaft und der Brief zeichnen sich beide durch ihre Beweglichkeit aus, weil es nichts gibt, das ihnen von vornherein Dauer verbürgt. Jeder Brief ist ein neuer Anfang, der erst durch die Antwort entweder bestätigt oder infrage gestellt wird. Die Freundschaft existiert nur so lange, wie man sich ihr zuwendet, und jede Zuwendung muss mit Unwägbarkeiten rechnen. Freundschaft sei kaum noch anders als 'auf des Messers Schneide' zu haben, schrieb Hannah Arendt an ihren langjährigen jüdischen Freund Kurt Blumenfeld in Israel. Dennoch: Wer sich auf diese Unwägbarkeiten einlässt, steht nach Arendt der Realität näher als alle, die sich irgendwelche künstlichen Identitäten anzudichten versuchen. Er kann erfahren, dass sich Freundschaft 'wie ein Schal um die Schultern' legt. Als wir uns dazu entschlossen, einen Band mit Briefen 'Arendt und Freundinnen' (so der Arbeitstitel) herauszugeben, gab es nur einen veröffentlichten Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und einer Freundin, der Schriftstellerin Mary McCarthy. Dem gegenüber standen zahlreiche veröffentlichte Briefwechsel mit männlichen Briefpartnern: mit den Philosophen Karl Jaspers und Martin Heidegger, mit Arendts Ehemann Heinrich Blücher, mit dem jüdischen Freund Kurt Blumenfeld, mit den Schriftstellern Hermann Broch, Uwe Johnson und Alfred Kazin, mit den jüdischen Gelehrten Gershom Scholem und Walter Benjamin. In den Archiven, denen Arendt ihren Nachlass übereignet hat, der Library of Congress in Washington und dem Literaturarchiv in Marbach, befindet sich aber eine erstaunliche Anzahl Briefe von und an Freundinnen, die nicht so sehr im Licht der Öffentlichkeit gestanden haben. Diese Briefwechsel sind zu einem größeren Anteil auch weniger umfangreich als die bisher publizierten. Aber im Reich des Privaten gelten andere Maßstäbe. Die Flüchtigkeit eines Briefes ist nicht gleichbedeutend mit Oberflächlichkeit, die Kürze eines Briefwechsels nicht mit mangelndem Interesse. Das
Von Freundschaften, die Nähe und Distanz kennen Freundschaft, so Hannah Arendt in ihrem Denktagebuch, gehört zu den 'tätigen Modi des Lebendigseins', und Briefe sind deren herausragende Zeugnisse. Dieser Band versammelt weitgehend unveröffentlichte Briefwechsel der politischen Philosophin mit ihren langjährigen Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff. Neben den gemeinsamen Projekten prägte die Freundschaften auch, dass alle Frauen die Wirklichkeiten von Emigration und Immigration kannten. Die Briefwechsel führen mitten hinein in Arendts Gedanken- und Arbeitswelt und sie greifen in vielfältiger Weise Fragen auf, die Arendt in ihren Büchern und Essays thematisiert hat.
Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 im heutigen Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 in New York gestorben, studierte unter anderem Philosophie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 emigrierte Arendt nach Paris, 1941 nach New York. Von 1946 bis 1948 arbeitete sie als Lektorin, danach als freie Autorin. Sie war Gastprofessorin in Princeton und Professorin an der University of Chicago. Ab 1967 lehrte sie an der New School for Social Research in New York.
Autor | Arendt, Hannah |
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Verlag | Piper Verlag |
ISBN | 9783492242660 |
ISBN/EAN | 9783492242660 |
Lieferzeit | 5 Werktage (inkl. Versand) |
Erfassungsdatum | 09.04.2019 |
Lieferbarkeitsdatum | 04.11.2019 |
Einband | Kartoniert |
Format | 4.2 x 20.6 x 13.5 |
Seitenzahl | 688 S. |
Gewicht | 592 |